Lange Zeit hatte ich Schuldgefühle, wenn ich demokratiefeindliche Gedanken hegte. Das Wort »demokratisch« war für mich zu einem Synonym geworden für Begriffe wie: »menschlich«, »freiheitlich« und »sozial«. Wer die Demokratie hinterfragt, gilt als suspekt. Robert Walser würde sagen: »Wer den Kopf anstrengt, macht sich verhasst; wer viel denkt, gilt als ungemütlicher Mensch. Ein guter Bürger darf nicht Furcht und Verdacht einflößen.«

Mein Ziel besteht aber nicht darin, ein »guter Bürger« zu werden. Ich riskiere, mich verhasst zu machen. Wer die Demokratie infrage stellt, bekommt oft die Frage an den Kopf geworfen, ob er denn wolle, dass wie im Tierreich das Recht des Stärkeren herrsche. Das ist jedoch eine Umkehrung der Tatsachen, denn erstens gibt es im Tierreich kein Recht, und zweitens ist Demokratie nichts anderes als das primitive »Recht des Stärkeren«, für das sie angeblich die Lösung ist. Zugegeben: Der Stärkere im Tierreich wird, wenn der Konflikt in Gewalt ausartet, am Ende seinen Willen bekommen. Aber wer bei dieser biologischen Argumentation Halt macht, treibt an der Oberfläche. Der Stärkere muss nämlich kein Einzelner sein. Einzelne können sich zusammenschließen, um gemeinsam einen Streit zu gewinnen. Zum Bilden und Aufrechterhalten einer Gruppe braucht man Sozialkompetenz. Wer außerdem nur mit dem Rückhalt einer Gruppe der Stärkere ist, wird vor seiner Impulsivität geschützt. Die Gruppe wird keinen Konflikt vom Zaun brechen, bei dem eine große Anstrengung, als unangemessen erscheint. So primitiv geht es im Tierreich also nicht zu. Dort herrschen keineswegs nur Kampf, Gewalt und gnadenloser Wettbewerb, sondern die Kooperation hat einen mindestens so starken Einfluss auf das Überleben des Einzelnen und die Evolution.

Wieso herrscht aus meiner Sicht in der Demokratie das Recht des Stärkeren? Weil die Mehrheit über die Minderheit bestimmen kann. Wer sich nicht an die Regeln der Mehrheit hält, wird durch das Gewaltmonopol dazu gezwungen oder bestraft. Jetzt werden viele einwenden, dass es in der Demokratie einen Minderheitenschutz in Form der Menschenrechte oder Grundrechte gebe und diese laut Verfassung nicht abzuschaffen wären. Mit den Grundrechten kann es jedoch nicht weit her sein, wenn sie mit derartigen Einschränkungen daherkommen wie im Grundgesetz:

Da heißt es zwar in Artikel 2, »jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«, aber danach kommt gleich die Einschränkung, »soweit er nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt«.
Oder: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« und »die Freiheit der Person ist unverletzlich«, aber es heißt auch, in diese Rechte dürfe aufgrund anderer Gesetze eingegriffen werden.
In Artikel 5 steht, »jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten« und »eine Zensur findet nicht statt«, aber dann folgt, »diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze.«

Für mich ist eine Ideologie (Ideologie = jedes System von Normen, das Menschen zur Rechtfertigung ihrer Handlungen verwenden), die sich euphemistisch »streitbare Demokratie« nennt, kein Ausdruck einer bemerkenswerten Weiterentwicklung des Zusammenlebens. »Wehrhafte« oder »streitbare« Demokratie bedeutet: Der Staat darf und kann sich gegen seine Kritiker wehren. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt gänzlich unironisch: »Die Feinde der Demokratie sollen niemals die Möglichkeit bekommen, die Demokratie abzuschaffen.« Das nenne ich eine geglückte Überwindung jeglicher Selbstzweifel.

Mich lässt eine Philosophie eher an ihrer Nützlichkeit zweifeln, wenn man sie sich strafrechtlich schützen lassen muss. Wenn Sezession grundsätzlich ausgeschlossen und mit Gewalt unterdrückt wird, ist die Grenze zum Totalitarismus überschritten, mindestens aber fließend. Mit Totalitarismus bezeichnet man laut Wikipedia »eine Form der Herrschaft, die in alle Lebensbereiche hineinzuwirken strebt, oft verbunden mit dem Anspruch, einen ›neuen Menschen‹ gemäß einer bestimmten Ideologie zu formen«. Wer würde diesen Anspruch der Politik heute infrage stellen? »Totalitarismus« ist allerdings assoziativ belastet, sodass »streitbare Demokratie« eloquenter daherkommt.

Zwei Geschichten können vielleicht meine Bedenken veranschaulichen:
Stell dir vor, du gehst mit neun Freunden in ein Restaurant zum Essen. Der Kellner kommt und fragt vorab, ob ihr die Rechnung teilen wollt oder jeder einzeln bezahlt. Sechs von euch wollen fürstlich speisen und Wein trinken, vier von euch sind Veganer, möchten nur einen Salat essen und bevorzugen Wasser. Die vier wollen einzeln abrechnen, die sechs wollen die Rechnung teilen. Eine Diskussion bringt kein Ergebnis, bis schließlich einer der sechs sagt: »Stimmen wir einfach demokratisch ab.« Die Veganer wollen aber nicht abstimmen. Schließlich holen die sechs ihre Waffen heraus und zwingen die vier, sich dem Mehrheitsentscheid zu beugen. Sie dürften sich gerne der Stimme enthalten, aber die Mehrheit entscheidet. Die Abstimmung ergibt, dass die Rechnung geteilt wird, und alle essen viel mehr als sie das täten, wenn jeder für sich zahlte.

Mit dieser Geschichte möchte ich illustrieren, warum ich im Privatleben Demokratie nur mit einem angenehmen Gefühl anwende, wenn sich vorher ausnahmslos alle mit diesem Prozess einverstanden erklären. Die Frage lautet nun, wann das anders werden könnte: Wenn hundert am Tisch sitzen? Bei einer Million Teilnehmer? Jetzt fragt ein Demokrat vielleicht: »Aber was wäre die Alternative?« Meine Antwort würde lauten: »Diese könnte noch unangenehmer sein. Weißt du aber nicht genau. Ist nur deine Vermutung. Als Demokrat könntest du auch die Strategie anwenden, andere zu überzeugen, einzuladen und eine Gemeinschaft zu gründen, deren Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit basiert. Willst du aber nicht. Vielleicht, weil du Angst hast, dass sich dann nicht genügend anschließen? Warum hast du diese Angst, wenn du doch sicher bist, dass alle Alternativen unangenehmer wären?«

Jetzt sagt der Demokrat eventuell: »Mein System basiert nicht auf Zwang. Wer will, kann das Land verlassen, seine Heimat aufgeben, sein Stück Land und sein Haus verkaufen, eine neue Sprache lernen, sich neue Freunde suchen und auch ohne seine Verwandten glücklich werden. Oder er muss alle Verwandten überzeugen, mit ihm das Land zu verlassen.«
Meine Antwort: »Könnte ich, ich würde anderen aber nicht solche Angebote machen.«

Ein zweites Beispiel:
Ein kleines Flugzeug mit drei Personen stürzt auf einer einsamen Insel ab. Die Insassen überleben den Absturz, und es waren glücklicherweise Vorräte für vier Wochen an Bord. Da kein Notruf abgegeben werden konnte, ist nicht klar, ob und wann Rettung kommen wird. Die Meinungen zur Vorgehensweise gehen auseinander: Der Pilot will sich nicht auf eine Rettung von außen verlassen und plädiert dafür, gleich tätig zu werden, eine Hütte zu bauen, Wasser zu suchen, Fallen aufzustellen und sich autark zu machen. Die beiden anderen sind der Meinung, dass die Vorräte auf jeden Fall reichen, bis Rettung eintrifft. Man geht getrennte Wege. Die Beiden legen sich zum Sonnen an den Strand und genießen den »Urlaub« mit Baden und Müßiggang. Der Pilot schuftet acht Stunden pro Tag und macht sich unabhängig.
Nach drei Wochen ist noch immer keine Rettung in Sicht, und die beiden Müßiggänger werden unruhig. Wenn direkte Gewalt ausgeschlossen wird, gibt es jetzt zwei Möglichkeiten:

1. Die Beiden haben einen gewissen Arbeitsrückstand zum Piloten, bis sie Unabhängigkeit von den mitgebrachten Vorräten erreichen. Diesen Rückstand könnten sie ausgleichen, indem sie in der verbleibenden Woche nicht acht Stunden am Tag arbeiten, sondern sechzehn. Wenn die Beiden dem Piloten gegenüber zugäben, sich geirrt zu haben und um Tipps bäten, was es beim Werkzeug-, Hütten- und Fallenbau zu beachten gibt, würde sich dieser sicher kooperativ zeigen. Vielleicht würde er ihnen auch Werkzeuge und im Notfall auch Nahrung ausleihen.

2. Die andere Möglichkeit der beiden besteht darin, auf der Insel Demokratie auszurufen. Sie hätten zusammen die absolute Mehrheit und könnten durch Sozialgesetzgebung eine Umverteilung von der besitzenden Klasse zur bedürftigen Klasse herbeiführen. Diese Art des Zusammenlebens könnte sich sogar nachhaltig aufrecht erhalten lassen, wenn man den Piloten weiter bei Laune hielte. Dazu müsste man ihm zugestehen, nach Abzug seines Solidarbeitrages immer noch mehr zu besitzen als die Sozialhilfe-Empfänger.

Auch wenn sich die zweite Variante (Demokratie) aus der Sicht des Piloten wie Raub und Sklaverei darstellen würde — es ginge nach Überzeugung der Demokraten alles rechtmäßig zu. 

Und was ist die Moral von diesen Geschichten? Es gibt keine. Ich kann nur für mich sagen: In einer Gruppe zu dritt, in der sich kein Konsens herstellen lässt und nicht alle mit einer demokratisch herbeigeführten Lösung einverstanden sind, werde ich nicht versuchen, einen auf meine Seite zu ziehen und den Dritten zu überstimmen, um zu bekommen, was ich gerne hätte. An meiner Haltung ändert sich auch nichts mit einer steigenden Zahl Beteiligter — und seien es 80 Millionen. Wie du in dieser Situation handelst, ist deine Sache.

Auf den häufigsten Einwand, dass ich keine bis ins Detail ausgearbeitete Alternative besitze, die garantiert »besser« funktioniert, antworte ich: Ich brauche keine Alternative, um mein Missfallen mit dem Status quo zu artikulieren. Ich will nicht darüber bestimmen, wie andere Menschen zu leben haben. Für mich wäre das eine Anmaßung, die ich gerne Gott-Syndrom nenne. Ich bemühe mich im Privatleben um den Verzicht auf Gewalt, und wenn dieser Lebensstil Erfolg hat, wird er Nachahmer finden.

Zum Schluss noch eine Nachricht für den Verfassungsschutz: Ich plädiere trotz meiner Demokratiekritik nicht für ein gewaltsames Vorgehen gegen den Staat und seine Organe. Ich sehe in Politikern und Beamten keine Feinde, sondern Menschen, die eine ungeschickte Strategie gewählt haben, ihre Triebe und Bedürfnisse auszuleben. Bei anderen Gewalt zu kritisieren, um selbst zur Gewalt aufzurufen, wäre selbstwidersprüchlich. Von einem Dissidenten wie mir geht also nur insofern Gefahr aus, als ich die Menschen verunsichern könnte und ihren Gehorsam zersetzen. Ja, das könnte auch Ihr Wirken desavouieren, aber Sie können sich noch jederzeit einen Job suchen, bei dem jemand freiwillig Geld für Ihren Lohn aufbringt.

Gruß nach Köln

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